INTENSIV-News
Das Dogma des künstlichen Tiefschlafs:
"Künstlicher Tiefschlaf" galt bis vor kurzem als adäquate Daseinsform kritisch Kranker auf Intensivstationen. Er wurde sogar zum Synonym intensivmedizinischer Therapie in der Laienpresse, wohl weniger als Ausdruck der historischen Beziehung zwischen Intensivmedizin und Narkose, denn als suggestive Verharmlosung der kritischen Erkrankung. In der Tat beruhigen geschlossene Augen und friedliche Gesichtszüge Behandelnde wie Angehörige, hofft man doch intuitiv, Patienten unangenehme Erfahrungen zu "ersparen". Aber gibt es überhaupt wissenschaftliche Evidenz für diese Annahme? Im Gegensatz zur selbstverständlichen Analgesie bei Schmerzen ist Tiefschlaf schon deshalb problematisch, weil er Beatmungs- und Intensivaufenthaltsdauer stark verlängert. Darüber hinaus ist zumindest für internistische Patienten ein erhöhtes Risiko für Pneumonie, Tracheotomie und die Durchführung unnötiger diagnostischer Prozeduren dokumentiert; und es gibt wenig Gründe, warum dies bei chirurgischen Intensivpatienten anders sein sollte (siehe INTENSIV-NEWS 2/99, 2/03). Selbst das posttraumatische Stress-Syndrom, Vermeidungsreaktion, obsessive Gedanken oder Depression traten in einer randomisierten Studie bei Patienten nach kontinuierlicher Sedierung mehr als doppelt so häufig auf als bei jenen, die täglich systematisch aufgeweckt worden waren (Kress JP, Am J Respir Crit Care Med 2003; 168:1457). Künstlicher Tiefschlaf "erspart" somit nicht nur nichts, sondern schadet - wenn wir die Evidenz aus kontrollierten und randomisierten Studien akzeptieren.
Gibt es "natürlichen" Schlaf bei Intensivpatienten?
Die Erhaltung eines physiologischen Tag-Nacht-Zyklus, mit den im EEG
erfassbaren Schlafstadien I-IV und dazwischenliegenden REM-Phasen ist
offenbar ein Zeichen relativer Gesundheit. "Natürlicher" Schlaf wird oft
bereits durch präexistente Erkrankungen gestört: Chronisch obstruktive
Lungenerkrankung, fortgeschrittene Herzinsuffizienz mit
Cheyne-Stokes-Atmung, neurologische Erkrankungen oder Alkoholabusus
führen regelmäßig zur Reduktion von Tiefschlafstadien und REM-Phasen.
Schlafprobleme auf der Intensivstation können daher oft eine
Aggravierung bereits vorbestehender Störungen sein. Der Schlaf von
Intensivpatienten ist fragmentiert; ihr Tag-Nacht-Rhythmus ist gestört
und fast die Hälfte des Schlafs findet am Tag statt. Die
EEG-Charakteristika des normalen Schlafs fehlen; oberflächliche
Schlafstadien 1 und 2 überwiegen. Visuelle Beobachtung von Patienten
überschätzt die im EEG erfasste Schlafdauer erheblich. Die als
Tiefschlaf bezeichneten und für die Erholsamkeit des Schlafes
verantwortlichen Schlafstadien 3 und 4 sind reduziert oder fehlen ganz.
Beinahe ist man versucht, in Analogie zum Versagen vitaler
Organfunktionen ein "Schlafversagen" kritisch Kranker zu postulieren.
Immerhin 67% der überlebenden Patienten berichteten weiterbestehende
Schlafstörungen nach Entlassung (Hurel D, Intensive Care Med 23:331).
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