INTENSIV-News
Ist Frau Cavelti erreichbar?
"Meine
Frau lebt nicht inmitten dieser Maschinen. Sie ist ohne Seele und
nicht erreichbar", sagt ihr hilfloser Ehemann, nachdem seine an
Leukämie erkrankte Frau notfallmäßig auf die Intensivstation verlegt
worden ist. Ich insistiere. "Natürlich wissen wir nicht, was genau und
wie ihre Frau wahrnimmt. Und natürlich gibt es Stunden, wo sie in
unserem Sinne nichts wahrnimmt, und dem ist auch gut so. Dann leidet sie
auch nicht an Ohnmacht, Schmerz, Lärm. Aber ihre Frau lebt noch. Genau
jetzt finden wichtige Prozesse in Richtung Sterben oder Heilung statt,
jedenfalls in Richtung Ganzwerdung und Spiritualität. Wie wenn eine
andere, musikalische Wahrnehmung da wäre." Ich spiele Harfe. Die Atmung
der Frau verändert sich leicht, der Hautwiderstand an ihrer Hand lässt
etwas nach. Auch der Mann hat es bemerkt.
Die Visite kommt. "Auf Wiederhören Frau Cavelti, wir - Ihr Mann und ich,
Frau Renz - kommen am Nachmittag nochmals." Zurück bleibt die
verklebte, an Schläuchen angeschlossene, halbnackte Patientin. Draußen
drücke ich dem hilflosen Mann unsanft ein Buch von mir (2005) in die
Hände und sage: "Lesen Sie das Kapitel über das sich verändernde
Musikerleben. Versuchen Sie sich hineinzudenken, welcher Art wohl das
'In-Der-Welt-Sein' Ihrer Frau jetzt ist." Am Nachmittag sagt Herr
Cavelti berührt: "Ich habe begriffen, dass meine Frau in einer anderen
Welt lebt. Ich möchte diese Sprache lernen." Täglich kommt er und
versucht sich einzufühlen. Berührung, Stimme, Sein. Er liest Bücher über
andere Bewusstseinszustände und Spiritualität. Trotz allem bleibt Frau
Cavelti lebensbedroht. Sie stirbt an einer nicht in den Griff zu
bekommenden Infektion und Lungenentzündung. Aus der Sicht ihres Mannes
aber hat seine Frau ihr O.K. zum Sterben gegeben. Sie sei gestorben, wie
er ihr ein Marienlied gesummt habe.
Tabuisiertes Leiden
Sterben
ist heute kein Tabuthema mehr, obwohl nach wie vor Geheimnis.
Sterbeszenen werden verfilmt. Man diskutiert über bestmögliche
palliative Maßnahmen, Bestattungsfragen, über die Einschaltung
interdisziplinärer Dienste; all dies um eine hohe Lebensqualität bis zum
Schluss zu ermöglichen. Das ist wichtig, vermag aber nicht, alles
Leiden auszuschalten und Sterben zu einer leichten Sache zu machen. Für
viele bleibt die Herausforderung, in einem äußersten Akt menschlicher
Reife ihre Zustände von Ohnmacht, Angst oder Schmerz einfach Stunde um
Stunde auszuhalten. Wo bleibt der Wert solchen Aushaltens? Tabuisiert
ist heute nicht mehr das Sterben, sondern das Leiden. Mit Folgen für die
Patienten:
"Mir ist die Würde gerade genommen"
Vor
mir weint eine junge, motorisch aktive, krebskranke Frau. Eben hatte
sie versucht, das Taschentuch zu ergreifen und fiel hin. Ihr Gesicht ist
beschmiert und doch kann sie nichts daran ändern. Krankheitsbedingt
kann sie Bewegungen nicht koordinieren und hat geistige Ausfälle erlebt.
Doch diese Frau "erlebt" sich darin und fällt dadurch auf. Deswegen
weint sie und sagt: "Ich bin ein Nichts." Und später: "Mich würde man
jetzt umbringen."
Wo menschliche Höchstleistungen des Aushaltens in einer Gesellschaft
ausgeblendet oder zum sinnlosen Leiden degradiert werden, wird den
Sterbenden etwas von ihrer letzten Würde genommen. Und, was nicht minder
verhängnisvoll ist: Es kann bisweilen gar nicht gestorben werden, bis
letzte Wandlungs- und Reifungsschritte, ja das Hinfinden zu wahrer Würde
doch stattgefunden haben. Können wir Menschen darin helfen?
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Tags: intensiv-news pflege spirituell
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